Gewerkschaften in Polen
Die Gewerkschaften spielen in der polnischen Gesellschaft eine besondere Rolle, weil die Gewerkschaft „Solidarność“ (Solidarität) bei den sozialen und politischen Umwälzungen nach 1980 entscheidend mitgewirkt hat.
Die eigentliche Arbeit der Gewerkschaften in ihrer intensiven Ausprägung begann in Polen erst nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit 1918. In der Zeit zwischen den Kriegen gab es in Polen Hunderte von Gewerkschaften, die sich je nach Wirtschaftsbranche und politischer Ausrichtung unterschieden. Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ist die Gewerkschaftsbewegung unter dem wachsenden Einfluss der kommunistischen Internationalen immer radikaler geworden.
Nach 1945 wurde die reiche Tradition der polnischen Gewerkschaftsbewegung von der kommunistischen Ideologie dominiert und man hat sie in das totalitäre System eingegliedert. Die Gewerkschaften wurden verstaatlicht und im Zentralrat der Gewerkschaften zusammengefasst. Diese Scheininstitution hatte keinerlei Bedeutung. Die Gewerkschaften kümmerten sich nicht mehr um die Interessen der Arbeiter, sondern beschäftigten sich mit dem Vertrieb von so genannten „attraktiven“ Gütern wie Kartoffeln und Zwiebeln, die bei den Gewerkschaften billiger als im Geschäft waren. Eine weitere wichtige Funktion war die Vergabe von Urlaubsplätzen in Ferienheimen sowie von Plätzen in Kinderferienlagern.
Erst mit Ausbruch der Streikwelle an der Ostseeküste 1980 veränderte sich die Lage schlagartig: Soziale Forderungen als Antwort auf die wachsenden Lebensmittelpreise machten bald dem Ruf nach freien (legalen) Gewerkschaften Platz. Die selbstverwaltete Gewerkschaft „Solidarność“, die damals entstand, war die erste unabhängige Gewerkschaft nach dem Zweiten Weltkrieg in Polen (und im kommunistischen Teil Europas und Asiens). Die Gewerkschaft wuchs bald zu einer großen gesellschaftlichen Bewegung mit fast 10 Mio. Mitgliedern. Sie hatte einen wesentlichen Anteil am Zerfall des Kommunismus und des totalitären Systems in Polen.
Die größten Arbeiterzusammenschlüsse sind heute die Gesamtpolnische Vereinigung der Gewerkschaften (Ogólnopolskie Porozumienie Związków Zawodowych – OPZZ) mit Sitz in Warschau sowie die Unabhängige Selbstverwaltete Gewerkschaft „Solidarność“ (Niezależny Samorządny Związek Zawodowy „Solidarność“ – NSZZ „Solidarność“) in Warschau und Gdańsk (Danzig).
Wie in den meisten anderen europäischen Ländern verfügen die polnischen Gewerkschaften über politische Kontakte. Die OPZZ hat ihren Platz bei sozialdemokratischen Gruppierungen (für Parlamentssitze kandidieren OPZZ-Mitglieder auf den Wahllisten der Linksdemokraten), während die NSZZ „Solidarność“ das rechte Spektrum besetzt. Die „Solidarność“-Politiker waren Mitglieder der Wahlaktion „Solidarność“ (Akcja Wyborcza „Solidarność“). Diese politische Gruppierung hat 1997-2001 in Polen regiert. Andere Gewerkschaften treffen gelegentlich Vereinbarungen mit unterschiedlichen politischen Parteien.
Nach Gewerkschaftsangaben hat die OPZZ 3 Mio. Mitglieder (davon 500 000 Rentner). In der NSZZ „Solidarność“ sind 900 000 Mitglieder. Beide gehören dem Internationalen Gewerkschaftsbund an. Die NSZZ „Solidarność“ ist darüber hinaus Mitglied der Europäischen Konföderation der Gewerkschaften, in der die größten europäischen Gewerkschaftsorganisationen vertreten sind, der Internationalen Konföderation freier Gewerkschaften sowie des Gesellschaftlichen Komitees bei der OECD.
Die Vertreter von OPZZ und NSZZ „Solidarność“ setzen sich in der trilateralen Kommission für sozialwirtschaftliche Angelegenheiten für die Arbeitnehmer ein. Diese wichtige Institution soll den sozialen Dialog in Polen aufrecht erhalten. Sie ist ein Forum für Arbeitnehmer, Arbeitgeber und Regierung zur Verständigung über Gehälter, Steuern, Haushaltsentwürfe und andere Angelegenheiten, die für die Wahrung des sozialen Friedens wichtig sind.
Es gibt noch einige kleinere Gewerkschaftsorganisationen: die Unabhängige Selbstverwaltete Gewerkschaft „Solidarność ’80“, die an die gewerkschaftliche Tradition vom Beginn der 80er Jahre anknüpft, sowie einige Einzelgewerkschaften wie z. B. von den Berufsgruppen: Bau, Steine, Erden; Lehrer; Eisenbahner; Krankenschwestern und Hebammen.
Eine besondere Rolle in der polnischen Gewerkschaftsbewegung spielen die Gewerkschaften der Einzelbauern, die die Interessen von Dorfbewohnern und Herstellern landwirtschaftlicher Produkte vertreten. Wie andere europäische Landwirte unternehmen auch die polnischen Bauern öffentlichkeitswirksame Protestaktionen. Dazu gehören das Ausschütten von landwirtschaftlichen Produkten bzw. von Abfällen auf öffentlichen Plätzen sowie Blockaden an Straßen, Autobahnen und Bahnstrecken.
Zu den wichtigsten Gewerkschaften der Landwirte gehören der Verband der polnischen Bauern und landwirtschaftlichen Organisationen sowie die NSZZ „Solidarność“ der Einzelbauern.
Aus den Gewerkschaften für Landwirtschaft geht auch die Gewerkschaft „Selbstverteidigung der Republik Polen“ (Samoobrona) hervor, die eine gesellschaftliche Bewegung und zugleich politische Partei ist. Von allen politischen Gruppierungen ist sie populistischsten und aggressivsten. Unter anderem hat sie zum Sturz des Rechtsstaates und zur Aufkündigung des sozialen Friedens aufgerufen.